Als Veränderte heimkehren: 
Der 27. Januar ist der jährliche Holocaust-Gedenktag

Drei junge Männer kommen des Weges, bei sich tragen sie Geschenke. Sie sind auf der Suche, fragen nach dem Weg. Man muss nicht sehr bibelfest sein, um unwillkürlich zu denken: Die Weisen aus dem Morgenland! Tatsächlich umgibt die sympathische Erscheinung etwas orientalisches Flair – wären wir nicht im winterlichen Münsterland. Genauer: am 75. Jahrestag des Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Das Foto entstand am 27. Januar 2020, dem jährlichen Holocaust-Gedenktag. Die drei jungen Männer kommen nicht aus dem Morgenland, sondern von der Dülmener Hermann-Leeser-Schule. Sie wollen wie jedes Jahr unweit der Viktorkirche drei weiße Rosen ablegen, nämlich an den drei „Stolpersteinen“, die dort in der Pflasterung liegen sollen. Stattdessen stehen sie jetzt an einem Bauzaun, dahinter ein kleinerer Krater im Erdreich. Die drei Schüler können die kleinen Gedenktäfelchen aus Messing nicht finden. Aber sie sehen viel mehr: die Mauerstümpfe jenes altehrwürdigen Wohnhauses, in dem bis 1939 der Dülmener Viehhändler Louis Pins mit seiner Gattin Jenny und Tochter Johanna lebte. Allein das kalte Mauerwerk im Boden ist letzte Spur der einst alteingesessenen jüdischen Familie. 

Man kann „Spurensuche“ aber auch weitergefasst verstehen, über Messingtäfelchen und Ziegelsteine hinaus. Denn der aufgerissene Boden über einem früheren Haus am Dülmener Kirchplatz lässt an ein Zitat von Papst Franziskus denken – es ist fast ein Klagewort, nämlich aus seiner Ansprache 2014 in der Gedenkstätte Yad Vashem unweit von Jerusalem:

„Vom Boden erhebt sich ein leises Stöhnen: 
Gib uns die Gnade, uns zu schämen für das, 
was zu tun wir als Menschen fähig gewesen sind!“

Es geht um uns – dass wir uns schämen. Und Scham, sagt der Papst, kann eine Gnade sein . Ein „Gedenktag“ will helfen, ins Nachdenken zu kommen – über uns selbst. Das Andenken an die Opfer von Gewalt und Terror will uns sensibilisieren, will uns zu Mitfühlenden machen. 

  • Es kann richtig sein, die Täter beim Namen zu nennen – aber dabei dürfen wir die Opfer und ihre Einzelschicksale nicht vernachlässigen. 
  • Es kann angemessen sein, sich laut zu empören – aber ebenso ist das schweigende Innehalten legitim. 
  • Man kann aus guten Gründen mit spektakulären Fakten und Fotos schockieren und heilsame Abscheu auslösen – man kann aber auch diskret die verblichenen und zarten Spuren derer pflegen, die einst ganz unaufgeregt dazugehörten.
  • Man kann es sich leicht machen, berechtigterweise und doch in ritualisierter Form die Schuld zu beschwören – und dabei die eigene Verpflichtung, selbst Verantwortung wahrzunehmen, geflissentlich übergehen.

Kurzum: Es geht auch an einem Holocaust-Gedenktag um uns! Es geht um die Einsicht: Vergangenheitsbewältigung ist immer auch Gegenwartsbewältigung. Denn der sogenannte Holocaust war – so kann man fern aller fachlichen historischen Einordnung und aller politischen Bewertung sagen – erst einmal ein Akt der Herzenshärte und der Gefühllosigkeit einerseits sowie der Feigheit und der Angst andrerseits. Nicht einfach eine bestimmte Ideologie war Ursache des Judenhasses, sondern eine verkrümmte Herzenshaltung des Misstrauens, der Ignoranz, der Überheblichkeit, der Gedankenlosigkeit. Und all diese Fehlhaltungen sind nicht „von gestern“, sondern schwelen und gären und giften bis heute. Oder immer wieder neu.

Sich dies bewusst zu machen, kann unser Denken verändern. Damit wären wir wieder bei den biblischen Sterndeutern – die ja auch „Weise“ waren. Und diese Weisen zogen „auf einem anderen Weg heim in ihr Land“: Sie waren verändert, nicht mehr dieselben.