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Archiv 2020/21

Keller Pins vollständig freigelegt. 

Am Freitag vor dem 4. Advent wurde noch einmal schweres Gerät am Anna-Kindergarten aufgefahren: Um den archäologischen Fund „Keller Pins“ für das nach Weihnachten beginnende Wirken der Bauhandwerker vorzubereiten, wurden die noch vorhandenen Mauerstümpfe nun erstmals vollumfänglich freigelegt. Dabei kamen historische Holzbohlen zum Vorschein, die einst den Fußbodenbelag bildeten. „Diese Bretter wird man auf Dauer nicht erhalten können“, erklärt Archäologe Dr. Gerard Jentgens. „Der Fußboden wird künftig mit gebrannten Fliesen ausgelegt werden.“ Überrascht zeigten sich die Ausgräber von einer unerwarteten Mauernische an der Ostwand des alten Kellergeschosses aus dem 18. Jahrhundert. „Wir werden bald noch einmal neu und dann endgültig entscheiden müssen, welchen Ausschnitt das archäologische Bodenfenster dem Betrachter präsentieren wird“, erklärt Pfarrer Markus Trautmann. „Vom Gehweg aus wird die Blickachse noch günstiger ausfallen als bisher vermutet.“ Und noch eine archäologische Erkenntnis gilt es zu vermelden: Aus der Zeit der Pfadfinderkellers in den 1950er Jahren wurden Reste von Illustrierten und einige Saftflaschen ans Tageslicht befördert, ferner einige Eierkohlen aus dem Heizöfchen der Büchereibaracke. – In den nächsten Tagen wird eine provisorische Abdeckung aufgebaut, damit über die Jahreswende die Grabungsstelle trocken bleibt.

Fotos: Petra Hagemann

Früherer Regionalbischof Geerlings würdigt neue Broschüre über jüdische Spuren in Dülmen.


Sehr geehrte Damen und Herren,

„Gott ist das Licht, das die Dunkelheit erhellt, auch wenn er sie nicht auflöst.“ Dieses adventliche Wort von Papst Franziskus macht es mir leichter, an das tägliche Kommen Gottes in unser Leben zu glauben – und mich Ihm als dem Kind in der Krippe anzuvertrauen. – Herzlich danke ich für die Begegnungen und vielfältigen Kontakte (trotz Corona), für die guten Worte und Gebete in diesem Jahr und wünsche ein frohes Weihnachtsfest und gesegnetes Jahr 2022.

Herzlichen Dank für die Broschüre „Im Bündel des Lebens“. Solche Spuren in verständlicher und griffiger Weise darzustellen, ist eine gute Weise der Aufarbeitung in Zeiten zunehmender antisemitischer Umtriebe. Mir ist beim Lesen und Betrachten eine eigene kleine Geschichte wieder lebendig geworden. Im Rahmen meines Hebräisch-Unterrichts am Gymnasium in Emmerich säuberten wir die teils zerstörten Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof und begannen, Texte von den Steinen zu übersetzen. Das wurde aber nicht bei allen Kreisen in der Stadtgesellschaft mit Wohlgefallen aufgenommen (1965!), so dass unser Lehrer das Projekt wieder einstellte.

Im Laufe des Zeit hätte ich nicht gedacht, dass ich mich noch aktuell mit dem Thema Antisemitismus beschäftigen muss …

 

Foto: Dirk Schmidtmann Fotografie

„Flaggen-Appell“ an der Dülmener Viktorkirche.

Unter strahlend-schönem Himmel kamen am Freitagvormittag, 10. Dezember, rd. 20 Vertreter aus dem öffentlichen Leben von Dülmen zusammen, um einem besonderen Ereignis beizuwohnen: Vor ihren Augen erklomm Ralf Lux, Hausmeister im intergenerativen Zentrum „einsA“, eine Leiter und brachte in luftiger Höhe an der Außenwand von St. Viktor ein farbenfrohes Fahnentuch an. Die Flagge mit dem traditionellen jüdischen Trinkspruch „Auf das Leben!“ soll an die vielfältige Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland erinnern. Das ist auch das Anliegen eines eigenen Gedenkjahres, das unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Steinmeier steht. Denn am 11. Dezember ist es genau 1700 Jahr her, dass der römische Kaiser Konstantin ein Edikt erließ, nach dem fortan die römischen Städte Juden in ihren Verwaltungen (Kurien) beschäftigen durften. Da diese Neuregelung auch für das rheinische Köln galt, gilt dieses Datum im Jahre 321 als ältester Beleg jüdischen Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschland. Der kleine Festakt an der Lüdinghauser Straße wurde musikalisch von Kirchenmusiker Christoph Falley mit dem Alt-Saxophon begleitet. Pfarrer Markus Trautmann hielt eine Ansprache, in der er die Gedanken von Theodor Heuss zu den drei „abendländischen Hügeln“ mit dem Dülmener „Gründungshügel“ in Verbindung brachte. Pastoralreferent Christian Rensing rezitierte engagiert das provokante Gedicht „Sehnsucht nach der Fremde“ von Heinrich Heine; Pfarrer Gerd Oevermann trug Psalm 8 („Die Würde des Menschen“) vor.

Zur Ansprache von Pfarrdechant Markus Trautmann >>>


Fotos: Christian Rensing

Eine Online-Ausstellung.

Die Vereinten Nationen und das Zentrum für verfolgte Künste in Solingen betreiben seit dem vergangenen Herbst gemeinsam eine Online-Ausstellung über jüdisches Leben in Deutschland. „7Places – Sieben Orte in Deutschland“ stellt sieben jüdische Gemeinden und ihre Geschichte vor und soll von Veranstaltungen mit internationalen Netzwerkpartnern begleitet werden. Außerdem soll eine digitale Lernplattform entstehen. Auf der Webseite der Ausstellung können die Besucher die Geschichte jüdischen Lebens anhand der Beispiele bis zu seinen Anfängen zurückverfolgen. Vorgestellt werden die Neue Synagoge Berlin, die Alte Synagoge in Essen, die ehemalige Synagoge auf Norderney, die Gedenkstätte „Landjuden an der Sieg“ in Windeck, ein Gedenkort in Halle (Saale), eine Gedenkveranstaltung von Schülern am Platz der ehemaligen Synagoge in Solingen und das in Köln entstehende LVR-Museum MIQua (Jüdisches Museum im Archäologischen Quartier). Erinnert werden soll an die Geschichte der Gemeinden und ihr Umgang mit dem Gedenken an Ausgrenzung, Verfolgung und Zerstörung anhand von historischen Fotografien, Kunstwerken, Dokumenten und Zeitzeugnissen. Das früheste Zeugnis stammt aus dem Jahr 321, als  Kaiser Konstantin Juden den Zugang zum Rat der Stadt Köln ermöglichte.

 

(Link: www.7places.org )

"Im Bündel des Lebens" – so lautet der Titel der neuen Publikation: Es geht um das Einsammeln und Zusammentragen, um das Verbinden und Verknüpfen. In diesem Sinne wird in dieser Broschüre quasi ein Geflecht bzw. ein Gewebe von über 100 Texten und über 200 Bildern vorgestellt, in denen die unterschiedlichsten Themenstränge und Gedankenlinien zusammenkommen: Immer geht es um jüdische und alttestamentliche Spuren in Dülmen – als materielle oder ideelle Erinnerungen; als altvertraute oder ganz überraschende Erkenntnisse; mit religiösen oder profanen Bezügen; in visuellen oder literarischen Gestalten; mit historischen oder aktuellen Bedeutungen; in jüdischen oder christlichen Interpretationen. Die vielfältigen Themen, Texte und Abbildungen sind im Verlauf der Darstellung in insgesamt zehn verschiedene, immer wiederkehrende Rubriken aufgeteilt, die sich jeweils durch eine andere farbige Umrandung erkennen lassen.

Herausgeber: Pfarrei St. Viktor 
ISBN: 9783000708114
68 Seiten, Preis: 3 Euro

Jüdische Spuren in Dülmen.

 „Provenienzforschung“ ist heute zu einem regelrechten Schlagwort geworden, wenn von „Raubkunst“ oder „Beutekunst“ die Rede ist. „Mit den sogenannten ‚Washingtoner Prinzipien‘ wurde 1998 erstmals eine internationale Vereinbarung formuliert, die Maßgaben zur Suche und Identifizierung von Kulturgütern definierte, die vor allem jüdischen Opfern des Nationalsozialismus abgepresst und geraubt worden waren“, so lesen wir (im November 2021) auf der Webseite des Jüdischen Museums in Dorsten. „Seither rückt die Prüfung von Provenienzen – die Herkunft von musealen Kulturgütern – stärker in den Mittelpunkt von öffentlicher Aufmerksamkeit, Kulturpolitik und der Museumswelt.“

Es könnte manchmal spannend wie in einem Krimi sein – wenn der Hintergrund nicht so real und makaber wäre:  Was wurde eigentlich aus dem ganz alltäglichen Besitz, den die im „Dritten Reich“ geflohenen oder verschleppten Juden, in Dülmen und andernorts, zurücklassen mussten? Der Immobilien- und Grundbesitz wurde ihnen ohnehin 1939 verboten. Wenn doch noch die Ausreise aus Deutschland gelang, war die Mitnahme von Hausrat oder persönlichen Gegenständen allerstrengsten Auflagen unterworfen und dann faktisch unmöglich. Wo aber blieb jener Hausrat, die Tisch- und Bettwäsche oder das Mobiliar, wenn die offizielle Ausreise bevorstand oder irgendwann die Deportation angekündigt und durchgeführt wurde? Das meiste zurückgelassene bewegliche jüdische Vermögen wurde wohl offiziell versteigert und konnte „legal“ erworben werden. Vermutlich wird es auch hier und da unkontrollierte Plünderungen und eigenmächtige Aneignungen gegeben haben. Mancherorts, etwa in Münster, wurden durch behördliche Maßnahmen offiziell die „Ausgebombten“ mit zurückgelassenen Hausratsgegenständen und Wäsche aus jüdischen Haushalten bedacht. Auch den „Lifts“ (Umzugscontainern) von Jenny und Johanna Pins erging es so: Sie standen verladebereit im Hafen von Münster, mussten aber dann bei der Ausreise am Jahresende 1940 zurückbleiben, wurden nach einiger Zeit von den Behörden geöffnet, der Inhalt an Bedürftige verteilt. (Diesem Umstand verdanken wir übrigens eine vollständige Auflistung des Hausrats im Hause Pins am Dülmener Kirchplatz, da Johanna nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Erinnerung eine Auflistung zusammenstellte, die für die Wiedergutmachungsansprüche geltend gemacht wurde.)

Und schließlich konnte vor dem „Verschwinden“ der jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen auch Folgendes vorkommen: dass nämlich die Betroffenen selbst in letzter Minute Nachbarn oder Freunden verschiedene Dinge überließen – sei es zur Aufbewahrung bis zur vermeintlichen Rückkehr, sei es als bleibendes Andenken oder als Dankeschön für erfahrene Unterstützung. Naturgemäß sind nach mehr als einem Dreivierteljahrhundert die damaligen Vorgänge kaum noch zu erhellen, wurden die betreffenden jüdischen Hinterlassenschaften irgendwann (wie ja auch andere Alltagsgegenstände aus jener Zeit) ausrangiert oder kamen sonst wie abhanden – zumal in einem Bombeninferno, wie es im Frühjahr 1945 Dülmen erlebte. Und doch konnte es sein, dass auch nach 1945 noch lange Zeit Häuser und Haushalte fortbestanden bzw. noch heute vereinzelt Zeitzeugen und Nachbarn leben, deren Erinnerungen und Erzählungen die Ereignisse von damals ganz unmittelbar erscheinen lassen.  

So etwa im Elternhaus von Antonia Müller geb. Roling (Jg. 1937), die im Haushalt ihrer Großmutter, der Dülmener Hebamme Antonia Wiese, aufwuchs – an der Coesfelder Straße (Ecke Plusch) in unmittelbarer Nachbarschaft zu den damals betagten Eheleuten Hugo und Sara Pins (beide Jg. 1870). Nachdem Tochter Charlotte (Jg. 1900) 1941 deportiert worden war, blieben Hugo und Sara als die letzten beiden Dülmener Juden bis zum Frühjahr 1942 in Dülmen zurück – verängstigt und von der Lage völlig überfordert. 

Und so war für die couragierte Hebamme Antonia Wiese schnell klar, welcher Belastung die betagten Eheleute und Nachbarn Pins ausgesetzt waren, unfähig geworden, die einfachsten Besorgungen zu erledigen. Vielleicht haben die beiden Senioren sich auch der Nachbarin anvertraut. Jedenfalls versorgte Antonia Wiese sie nun regelmäßig mit Lebensmittelpaketen. Diese wurden, um nicht den Argwohn der fanatisierten Nazis zu erwecken, im Schutz der Dunkelheit auf die andere Seite der Straßenkreuzung gebracht. Antonia Müller erinnert sich, dass dies immer ihr Onkel Hannes von der Tiberstraße zu erledigen hatte. Die damaligen Vorgänge wurden bereits an anderer Stelle eingehend beschrieben: Link zum PDF-MünsterLandMagazin ... 

Im April 1942 war es dann so weit; die schreckliche Ahnung wurde Gewissheit. Wieviel Vorlaufzeit zwischen Ankündigung und Vollzug der Deportation mag Hugo und Sara Pins eingeräumt worden sein? Wir wissen es nicht. „Kurz bevor sie weg mussten, haben die Eheleute Pins meiner Oma angeboten, ihr Schlafzimmer zu übernehmen“, erinnert sich Antonia Müller. Unmittelbar nach ihrer Deportation habe ihr Onkel Hannes die Schlafzimmermöbel abgebaut und zum Plusch Nr. 1 gebracht. „Es war dann viele Jahre von den Großeltern in Gebrauch“, so Antonia Müller, „auch ich habe dann in dem Doppelbett mitgeschlafen.“ Außerdem verschenkte Sara Pins in diesen letzten Tagen als bleibendes Andenken und als Dankeschön für all die Unterstützung, die sie durch Antonia Wiese erfahren hatte, eine Granatschmuck-Brosche. „Meine Oma hat die Brosche später auch getragen“, so erinnert sich Antonia Müller, „auf einem Foto kann man das noch erkennen.“ Daher hat für sie das etwas aus der Mode gekommene Schmuckstück vor allem einen eher ideellen Wert. Neben der Brosche ist auch noch eine von Sara Pins ihrer Nachbarin überlassene Blumenvase bis zum heutigen Tag erhalten, wohingegen die Schlafzimmermöbel nicht mehr existieren. 

Ein Rundgang durch Neustadt am Rübenberge. 

Nachdem Fanny Pins geb. Bendix, die erste Ehefrau von Louis Pins, im Februar 1924 im Alter von nur 45 Jahren verstorben war, bahnte sich schon bald eine neue Beziehung an. Jenny Rosenstein, die zweite Ehefrau, war zu dieser Zeit als Haushaltshilfe in Dortmund beschäftigt, stammte aber gebürtig aus Neustadt am Rübenberge, einem Landstädtchen nordwestlich von Hannover. Im Dezember 1924 gaben die beiden ihre Verlobung bekannt. 

Wenn wir uns in Neustadt auf die Spuren von Louis und Jenny Pins begeben, sollten wir am Bahnhof beginnen. 

IMG_5567Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Anreise von Dülmen nach Neustadt bzw. die Abreise von Neustadt nach Dülmen in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg noch fast ausschließlich auf dem Schienenweg geschah. Der Bahnhof von Neustadt am Rübenberge an der Bahnlinie von Hannover nach Bremen wurde um 1860 angelegt. Das erhaltene historische Empfangsgebäude stammt in seinem Ursprung aus jener Zeit und wurde später – wie auch die gesamte Gleisanlage – erweitert.

IMG_5488Wenn man vom Bahnhof in die Innenstadt von Neustadt am Rübenberge geht, kommt man am heutigen «Canpolant City-Grill», einem Schnellimbiss, vorbei. Vor dem Eingang entdeckt man in der Pflasterung zwei «Stolpersteine». Sie erinnern an Martha und Emmy Rosenstein (beide Jg. 1878), die 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet wurden. In Neustadt gab es seit jeher etliche Träger dieses Namens – sicherlich entfernte Verwandte von Jenny Rosenstein. 

IMG_5484Wir gehen die Markstraße entlang, wo linkerhand der ehemalige «Posthof» mit einem romantischen Hinterhof liegt. Die Parzelle samt Bebauung war im Eigentum der Eltern von Jenny Rosenstein; vermutlich war dies auch Jennys Elternhaus. Nach dem Tod des Schwiegervaters von Louis Pins, Jakob Rosenstein, war die Parzelle Marktstraße Nr. 13 zunächst (1927) an Jenny und ihre Geschwister (und deren Gatten) als Erbengemeinschaft übergegangen. 1936 entschloss man sich, das Grundstück und den «Posthof» an den Neustädter Kaufmann Otto Thoms zu veräußern.

 

IMG_5493Einige Schritte weiter gelangt man zum historischen Rathaus von Neustadt. Hier – genauer: auf dem Standesamt – gaben sie Louis Pins und Jenny Rosenstein am 25. Februar 1925 das Ja-Wort. Das im Fachwerkstil errichte Gebäude von 1728 war bis 1935 in der Nutzung der Stadtverwaltung. Seit jeher verfügte das Rathaus über einen Ratskeller, wo man auch heute noch speisen kann. 

Wir machen einen Abstecher zur Mittelstraße Nr. 18, wo sich seit dem 19. Jahrhundert die jüdische Synagoge der Gemeinde befand. Das alte Fachwerkhaus war von den umgebenden Häusern kaum zu unterscheiden; in der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 wurde es zerstört. Sofern damals der Brauch üblich war, am Herkunftsort der Braut zu heiraten, dürften Louis Pins und Jenny Rosenstein 1925 hier die Trauung nach jüdischem Ritual begangen haben. 

IMG_5500Die schon erwähnte Übertragung des Familienbesitzes Marktstraße Nr. 13 auf die Erbengemeinschaft bzw. dann der Verkauf wurde beim Grundbuchamt bzw. in der betreffenden Grundbuchakte abgewickelt und dokumentiert. Auch Louis und Jenny Pins reisten einige Male aus Dülmen an: Ihre Namen werden häufiger in notariellen Texten erwähnt, ihre Unterschriften finden sich auf zahlreichen Dokumenten. Das Amtsgericht, wo sich das Grundbuchamt befindet, ist bis heute von außen im Originalzustand von 1903 – auch das Türportal, durch das Louis und Jenny Pins mehrmals geschritten sind. 

IMG_2802Wenige Schritte vom Amtsgericht entfernt befindet sich auf dem Areal «Zwischen den Brücken» seit 2018 ein Holocaust-Mahnmal. Auf drei aufeinandergetürmten quadratischen Tafeln aus Cortenstahl stehen die Namen der Menschen aus Neustadt und den umliegenden Dörfern, die im «Dritten Reich» von den NS-Behörden erfasst und damit für die Deportation und Vernichtung bestimmt wurden. 

IMG_5542Etwa 3 Kilometer außerhalb der Innenstadt, wo die Leine durch eine Wiesenlandschaft mäandert, befindet sich auf einer Anhöhe im Wald der mit einer Backsteinmauer eingefasste jüdische Friedhof von Neustadt am Rübenberge. Die Begräbnisstätte wurde von 1804 bis 1928 (und dann zweimal in jüngerer Zeit) belegt; rd. 60 historische Grabsteine sind bis heute erhalten. Auch der unter den Neustädter Juden verbreitete Familienname «Rosenstein» ist hier zahlreich vertreten. 

Neue Erkenntnisse zur Familie Pins. 

Von einer „fiskalischen Ausplünderung“ ist heute in der historischen Fachliteratur die Rede, wenn die ab Mitte der 1930er einsetzenden finanziellen Auflagen und Repressalien gegen die deutschen Juden gemeint sind. Ab 1936 wurden Juden generell verdächtigt, potentielle Kapitalschmuggler zu sein. War man erst einmal erfasst, konnte man sich dem Prozess der wirtschaftlichen und finanziellen Auspressung nicht mehr entziehen – zumal es ohne Bedeutung war, ob die Auswanderungsabsicht tatsächlich vom Betroffenen geäußert worden war oder ob sie ihm nur unterstellt wurde. Guthaben wurden willkürlich beschlagnahmt, eingefroren oder abgewertet. Da blieb es nicht aus, dass sich auswanderungswillige Juden in ihrer Panik auch am Gesetz vorbei auf Bestechungen einließen, um ihre Emigration zu beschleunigen – so auch Louis Pins, der nach den Novemberpogromen von 1938 fast hektisch die Ausreise seiner Familie nach Südamerika vorantrieb. 

Pins-GrundbuchIn der umfangreichen Urteilsbegründung im Devisenprozess gegen den Hamburger Mitarbeiter des Generalkonsulats von Uruaguay (Heinrich Bockholdt) am 26. April 1940 findet auch der damals bereits verstorbene Louis Pins Erwähnung: „Der Pins hat damals am 12. 6. 1939 bei seiner Vernehmung durch die Zollfahndungsstelle angegeben, dass er bezüglich der beiden Hypotheken die Hypothekenbriefe, die über einen Wert von 10.300,- RM lauteten, im Besitz gehabt habe. Durch die Entschuldungsaktion hätten sie an Wert verloren.“ Louis Pins hatte in dem genannten Verhör wörtlich ausgesagt: „Ich habe die eine Hypothek angeboten für 2.050,- RM und konnte sie nicht loswerden, die von Schulze Empting, der Bauer ist in der Entschuldung. Der Wert ist 10.300,- RM.“

Diese fünf Ziffern erlaubten es Malte Igelbrink, Mitarbeiter beim Landesarchiv NRW in Münster, die näheren Hintergründe zu recherchieren. Im Landesarchiv liegen heute die historischen Grundbücher des Amtsgerichts Dülmen – nur gibt ein Grundbuch eigentlich nicht die Namen von Gläubigern preis. (Diese finden sind sich in den zugehörigen „Grundbuchakten“ bzw. in den „Hypothekenbriefen“.) Somit führte allein die erwähnte Summe (10.300,- RM) zum gesuchten Vorgang des Hypothekeneintrags und zur Identifizierung der damaligen Besitzer. 

Maeusescheune2Bei dem von Louis Pins im Verhör erwähnten Namen „Schulze Empting“ handelt es sich um den Landwirt Josef Schulze Emtping in Rödder, im Dülmener Adressbuch von 1937 unter Buldern Nr. 135 geführt. Der Schulzenhof Empting ist seit dem 14. Jahrhundert belegt und gehörte ursprünglich zur Gutsherrschaft Sythen. Aus den „Geschichtlichen Mitteilungen über die Bauerschaft Rödder“ von Ludwig Bielefeld aus dem Jahr 1922 ergibt sich, dass der traditionsreiche Schulzenhof mit 59 Hektar einer der (mit Abstand) größten Hofstellen in Rödder war. – Der Hof steckte in den 1930er Jahren finanziell in der Klemme. 

Bilderbuch_14Die von Louis Pins genannte Hypothek über 10.300,- RM war am 10. März 1933 ins Grundbuch eingetragen worden. Schon im Vorjahr (nämlich am 23. Juli 1932) war eine Grundschuld von 12.680,- RM eingetragen worden, deren Gläubiger die (später nach Argentinien emigrierten) Gebrüder Max und Adolf Pins waren. Die Tatsache, dass gleich drei jüdische Gläubiger über Hypotheken auf einen alteingesessenen Schulzenhof verfügten, mag dem Klischee von den „jüdischen Bauernverderbern“ noch weitere Nahrung geliefert haben.

Neue Erkenntnisse zur Familie Pins. 

Lageplan der ImmobilieDie Konzipierung eines archäologischen Bodenfensters „Keller Pins“ in der Dülmener Innenstadt will mehr bewirken als die bloße Bewahrung einiger spärlicher Mauerstümpfe. Vielmehr soll die kleine Landmarke unweit der Viktorkirche anregen, sich auf vielfältige Weise mit der Geschichte und der Tragödie einer alteingesessenen Dülmener Familie auseinander zu setzen. Dabei zeigt sich, dass auch im Abstand von mehr als 80 Jahren immer neue Spuren sichtbar werden. So war erst vor einem Jahr im Staatsarchiv Hamburg eine Ermittlungsakte der dortigen Zollfahndungsstelle entdeckt worden, in der sich auch Vernehmungsprotokolle von Verhören des im Juni 1939 verhafteten Louis Pins befinden. Diese Protokolle wiederum geben einen beklemmenden Einblick in die rechtlich wie finanziell verfahrene Situation einer zur Auswanderung drängenden Familie – wie es Louis, Jenny und Johanna Pins damals waren. So waren jüdische Familien nicht nur gezwungen, alle möglichen horrenden Abgaben (wie „Reichsfluchtsteuer“ oder „Judenabgaben“ oder „Sühnegeld“) zu entrichten; auch fest angelegtes Vermögen war plötzlich nur weit unter Wert zu veräußern – wenn überhaupt. Dazu zählten auch Hypothekenbriefe, deren zwei die Zollfahnder bei Louis Pins beschlagnahmten, darunter eine Grundschuld auf ein Grundstück bzw. eine Immobilie in der Innenstadt von Neustadt am Rübenberge. 

DIMG_5480ieses bis heute beschauliche Landstädtchen nordwestlich von Hannover und östlich vom Steinhuder Meer war die Heimat von Jenny Rosenstein, der zweiten Frau von Louis Pins. Die beiden hatten 1925 in Neustadt geheiratet. Nach dem Tod des Schwiegervaters von Louis Pins, Jakob Rosenstein, war die in dessen Eigentum befindliche Parzelle Marktstraße Nr. 13 zunächst (1927) an Jenny und ihre Geschwister (und deren Gatten) als Erbengemeinschaft übergegangen. In diesem Zusammenhang tauchen mehrfach auch die persönlichen Unterschriften von Louis und IMG_5406Jenny in den Dokumenten auf. 1936 entschloss man sich, das mit dem historischen „Posthof“ samt romantischem Hinterhof überbaute Grundstück an den Neustädter Kaufmann Otto Thoms zu veräußern. Da dieser nicht die gesamte Kaufsumme aufbrachte, ließen sich die Rosenstein-Erben als Gläubiger bzw. Hypothekeneigner ins betreffende Grundbuch beim Amtsgericht Neustadt eintragen. Auch Jenny und Louis Pins beurkundeten bzw. bestätigten diesen Vorgang (bzw. die eigene Hypothek in Höhe von 6.000,- €) am 6. August 1936 mit ihrer Unterschrift.

IMG_5458Dass ein Grundbuch neben den Hypothekeneinträgen auch die Namen von Gläubigern preisgibt, ist eher ungewöhnlich; entsprechend schwierig ist in der Regel der Zugang zu einschlägigen Grundbuchakten, die über die betreffenden Vorgänge im einzelnen und namentlich Aufschluss geben könnten – sofern diese Akten überhaupt den Zweiten Weltkrieg überstanden haben. Doch manchmal lauert das Finderglück: „Seit Eingang Ihrer Anfrage befasse ich mich mit den Familien Pins/Rosenstein und ich glaube durch einen Zufall etwas gefunden zu haben“, teilte Stefan Dittmer, Mitarbeiter beim Grundbuchamt Neustadt, in einer Mail vom 11. Oktober 2021 mit. Er ist selbst verblüfft, dass er den untypischen IMG_5400Eintrag „Pins“ im eigentlichen Grundbuch vorfand: „So was kommt eigentlich nicht vor“, meint Dittmer.  Jedenfalls war somit die betreffende Parzelle in Neustadt – Marktstraße 13 – identifizierbar als Bezugsgröße jenes Hypothekenbriefs, den die Hamburger Zollfahnder drei Jahre später in der Dülmener Wohnung von Louis und Jenny Pins beschlagnahmten. Und auch die richtige Grundbuchakte war nun gezielt auffindbar. Die zur Neustädter Markstraße Nr. 13 gehörende Grundbuchakte dokumentiert die zahlreichen Vererbungen, Übertragungen, Verkäufe und Belastungen in den Jahrzehnten nach 1900. 

IMG_5496„Diese Vorgänge sind alles andere als nur bürokratische Einträge“, wusste Sandra Klingemann, ebenfalls Mitarbeiterin beim Grundbuchsamt, gegenüber Dülmener Geschichtsinteressierten zu berichten, die am 16. November nach Neustadt gekommen waren. Erst jüngst musste Klingemann die Eigentumsverhältnisse eines ursprünglich in jüdischem Besitz befindlichen und nach dem Krieg „verwaisten“ Grundstücks klären. Ein heutiger Nutzer möchte es als Eigentum erwerben bzw. dokumentieren lassen; das Amtsgericht muss dann nach eventuellen Eigentumsansprüchen forschen. „Natürlich erreicht unser behördliches Aufgebot im Schaukasten keine Nachfahren oder Verwandte in Montevideo oder New York“, meint Sandra Klingemann etwas resigniert. „In gewisser Weise wird so durch unsere Behörde jüdischer Grundbesitz ein zweites Mal enteignet.“ Und sie ergänzt: „Wenn man sich näher mit diesen Angelegenheiten befasst, kann man schon mal richtig aufgewühlt sein.“

Es war eine Premiere: Erstmals kooperierten der Verein Ex libris und die Gemeinde St. Viktor, und zwar bei einem literarisch-musikalischen Abend. „Wir wollten die Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht einmal anders aufziehen und wollten durch die Texte von jüdischen Autoren an das jüdische Leben erinnern“, so die Ideengeber Markus Trautmann und Florian Kübber. „Es sollte aber auch gezeigt werden, dass die Texte der Autoren immer noch aktuell und in der Gesellschaft verwurzelt sind.“ So trugen Pfarrerin Susanne Falcke, Bürgermeister Carsten Hövekamp sowie Ellen Terhorst, Berthold Büning und Petra Toppmöller Texte von Heinrich Heine, Stefan Zweig, Marga Spiegel, Elias Canetti und Anne Frank vor, und zwar vor rund 60 Besuchern in der Alten Sparkasse. Musikalisch wurde der Abend von Christoph Falley begleitet. „Insgesamt war es eine stimmungsvolle Atmosphäre und eine würdige Gedenkveranstaltung in einem anderen Rahmen, der auch bei den Zuhörern auf viel Zuspruch stieß“, so Kübber. Nun werde überlegt, ob es 2022 eine Neuauflage geben soll.

StViktor

Auf jüdische Spuren
in Dülmener Haushalten

„Da sagte Jesus zu ihnen: Deswegen gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt.“ (vgl. Mt 13,52) Fast jeder Mensch sammelt irgendwas – mehr oder weniger bewusst. Zumindest haben wir alle schon einmal irgendein Andenken aufbewahrt und halten es in Ehren. Im Folgenden werden zehn Dülmener Personen vorgestellt, die uns einen kleinen „Schatz“ aus dem Heiligen Land bzw. aus dem Judentum vorstellen. 

Mesusa

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Matthias Menkhaus

Matthias Menkhaus

Verbundleiter Kindertageseinrichtungen 

Eine lebendige Erinnerungskultur ist heute wichtiger denn je. Was wäre da offensichtlicher, als eine Erinnerungsstätte in einen Ort der puren Lebendigkeit einzubinden – in eine Kindertageseinrichtung! An diesem Ort der Begegnung kann die sprichwörtliche „Brücke“ zwischen der Vergangenheit und einer weltoffenen Zukunft geschlagen werden.