Archiv 2023
Hans Davidson blickt dankbar zurück
In einer Mail hat sich Prof. Dr. Hans Davidson beeindruckt von seinem zweitägigen Aufenthalt in Dülmen (18./19.4.) gezeigt:
Thanks so much for the time you spent with us showing us around and sharing information about your town that literally rose back form the ashes. I had not imagined the destruction that was inflicted upon Duelmen. I was equally impressed by the dedication of you and the educators in telling about the past to young people. Children are the future and by relating the past it is hoped that they will not repeat the mistakes made. I have contacted the Stolpersteine organization in Zwolle to see if there is interest in sharing information and I will also see if the Gymnasium whose students have a large manifestation to honor the victimized Jews each beginning of October to see if there is the chance of some form of cooperation with the Hermann Leeser Schule. I attach some pictures of the cemetery in Zwolle, including the "menora tree", a composite tree with 7 trunks, the same symbolism as the 12 apostle trees.
In gratitude, Hans Davidson
(Vielen Dank für die Zeit, die Sie mit uns verbracht haben, um uns herumzuführen und Informationen über Ihre Stadt zu teilen, die buchstäblich aus der Asche auferstanden ist. Ich hatte mir die Zerstörung, die Dülmen zugefügt wurde, nicht vorgestellt. Ebenso beeindruckt war ich von dem Engagement von Ihnen und den Pädagogen, jungen Menschen von der Vergangenheit zu erzählen. Kinder sind die Zukunft und durch das Erzählen der Vergangenheit hofft man, dass sie die begangenen Fehler nicht wiederholen. Ich habe die Stolpersteine-Organisation in Zwolle kontaktiert, um zu sehen, ob Interesse an einem Informationsaustausch besteht, und ich werde auch sehen, ob das Gymnasium, dessen Schüler Anfang Oktober eine große Kundgebung zu Ehren der schikanierten Juden veranstalten, um zu sehen, ob es die Möglichkeit einer Form gibt der Kooperation mit der Hermann-Leeser-Schule. Ich füge einige Bilder des Friedhofs in Zwolle bei, darunter den "Menora-Baum", einen zusammengesetzten Baum mit 7 Stämmen, die gleiche Symbolik wie die 12 Apostelbäume.
In Dankbarkeit, Hans Davidson)
Kathi und Hans Davidson zu Besuch in Dülmen
"From a question to two days of remembrance teaching and learning! Danke vielmals, Hans D."
So lautet die Widmung in einem Buch, welches Hans Davidson als Geschenk mitbrachte. "Aus einer Frage wurden zwei Tage voller Erinnerungslehren und -lernen. Danke vielmals"
Der Kontakt zu Prof. Dr. Hans Davidson ist Ende Februar durch eine Bildnutzungsanfrage entstanden. Bereits wenige Wochen später durften wir ihn und seine Frau hier in Dülmen begrüßen.
Hans Davidson ist der Sohn von Adolf, genannt Dolf, der mit seinen Eltern Isidor und Bertha und den Geschwistern Walter, Hermann und Martha, genannt Johanna, an der Lüdinghauser Straße 15 wohnte. Als das Leben für die Familie in Dülmen unerträglich und lebensbedrohlich wurde, zogen die Davidsons im November 1937 (Johanna und Hermann bereits 1933) nach Zwolle, die Heimatstadt von Familienvater Isidor. Nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht 1940 konnten die Geschwister Adolf und Martha untertauchen. Mutter Berta, ihre Söhne Hermann und Walter wurden in Westerbork interniert und von dort deportiert. Bertha wurde in Sobibor und Hermann und Walter in Auschwitz ermordet.
Hans Davidson war als Kind das letzte Mal in Dülmen und nutzte nun die beiden Tage, um sich auf Spurensuche seiner Familie zu begeben und auch um selbst Auskunft zu geben.
So begegneten sie am Dienstag einer Gruppe Schülerinnen und Schüler der Hermann-Leeser-Schule >>>. Gemeinsam mit den Jugendlichen ging es durch die Stadt zur Lüdinghauser Straße, wo der Stolperstein für Isidor >>>, dem Großvater von Hans, ausgetauscht wurde.
Im Anschluss suchte die Gruppe die Stolpersteine der Familie Salomon, der Herkunftsfamilie der Großmutter Bertha, auf. Weitere Haltepunkte waren das Judenhaus, der Innenhof, wo einst die Syngagoe stand, und der Gedenkort "Keller Pins".
Im einsA wurden die beiden Gäste von Bürgermeister Carsten Hövekamp begrüßt. Das Programm an diesm Tag endete mit dem Vortrag >>> mit Prof. Dr. Hans Davidson über die Familiengeschichte.
Am nächsten Tag wurden die beiden jüdischen Friedhöfe in Dülmen aufgesucht. Auf dem Friedhof an der Anne-Frank-Straße befindet sich das Grab von Sophie und Abraham Salomon, den Urgroßeltern von Hans Davidson.
Nach einer Kaffeepause bei Schuldirektor Robert Schneider, wurden noch einige interessante Akten im Stadtarchiv gesichtet. Damit endete der Besuch von Hans und Kathi Davidson. Alle Beteiligten sind sich einig, dass das eindrucksvolle Begegnungen in den beiden Tagen waren.
Bewegender Vortrag von Prof. Davidson im einsA
“It is so cold here…”
… das waren die letzten Worte von Isidor Davidson, Großvater von Prof. Dr. Hans Davidson. Isidor starb 1939 bei einem Motoradunfall in Zwolle (die DZ berichtete) und ist der Einzige der Familie, der dort auf dem jüdischen Friedhof beerdigt ist. „Die anderen Davidsons starben in Auschwitz,Sobibor, in Konzentrations- und Vernichtungslagern. Dass ich heute Abend hier sein kann is a miracel, ein Wunder.“ Im vollbesetzten Saal des einsA zieht der emeritierte Medizinprofessor und profunde Holocaust-Experte Hans Davidson seine Zuhörer in den Bann. Eindrucksvoll kombiniert er private Fotos mit historischen Bildquellen und stellt den Zuhörern vor dem geschichtlichen Hintergrund der 20er bis 40er Jahre des 20 Jahrhunderts einzelne Familienmitglieder und deren Schicksal vor. Etwa Bahrend, der im Widerstand war, denunziert, verhaftet und nach einem Scheinprozess in Berlin hingerichtet wird. In Auschwitz kommen seine Onkel Hermann und Walter ums Leben; Deportation, Selektion, Typhus, Vernichtung durch Arbeit, Ermordung durch Zyklon B – , auch die sechsjährige Femmystirbt hier. „Ich erzähle es, um zu verdeutlichen, dass nicht, wie oft gesagt wird, sechs Millionen Juden von den Nazis ermordet wurden, sondern weil sechs Millionen Mal ein einziger Jude ermordet wurde“, so Davidson. Und das Wunder?
Ende September 1942: Mit 80 Zwollener Juden werden seine Eltern Zus und Dolf eingepfercht in die Sporthalle des Gymnasiums Celeanum. Sie sollen über Westerbork deportiert werden, „um im Osten in Industrie und Landwirtschaft zu arbeiten“, wie die Nazis ihnen Glauben machen. Die Zustände in der Halle sind schrecklich, Frauen und Kinder schlafen am Boden, es gibt nicht genügend sanitäre Einrichtungen, keine Verpflegung. Vater Dolf, gerade am Meniskus operiert, humpelt die Treppe hoch und wird von einem deutschen Soldaten gefragt, warum er hinkt. In perfektem Deutsch berichtet Dolf von seiner Operation, der Soldat hatte vor kurzem die gleiche. Da auch der Soldat an die Arbeitslager-Lüge glaubt, sagt er, Dolf könne nicht arbeiten, er brauche Physiotherapie und fordert ihn auf, schnell wegzugehen, bevor seine Vorgesetzen kämen. Ohne seine Frau wolle er nicht fort, sagt Dolf, und der Soldat entlässt sie beide gemeinsam. Im Versteck, das sich Wand an Wand mit der NSB-Zentrale (niederländische NSDAP) befindet, überleben die Eltern den Krieg.
Ein ebenso emotional-persönlicher wie historisch fundierter Vortrag, der die fast 70 Anwesenden, darunter etwa 20 Jugendliche, zutiefst beeindruckt hat, wie auch die Anschluss-Diskussion zeigte. „Meine Präsenz hier und die Art und Weise wie wir den Tag verbrachten und ich Ihnen und den Schülerinnen und Schülern meine Geschichte vermitteln durfte, war ein Geschenk für mich“, bedankt sich Professor Davidson.
Die mitgebrachten Fotos und Dokumente ergänzen das Wissen um das jüdische Leben in Dülmen. Seine Gespräche mit Jung und Alt sowie der eindrucksvolle Vortrag werden in Erinnerung bleiben.
Bericht: Dr. Andrea Peine
Zwolle und Dülmen
Bei einer Begegnung zwischen Schülerinnen und Schülern der Hermann-Leeser-Schule und den Eheleuten Davidson, die für zwei Tage aus Zwolle zu Besuch nach Dülmen gekommen waren, stellte Pfarrer Markus Trautmann eine Betrachtung >>> zu einem Zitat aus dem Werk des Mystikers Thomas von Kempen an: „Eitel ist es, sich ein langes Leben zu wünschen und sich um ein gutes Leben kaum zu bemühen.“ Thomas von Kempen war im Spätmittelalter Mönch in Zwolle.
Appell von Schalom Ben-Chorin auf dem Marktplatz
Mit eindrucksvollen Worten zitierte der Dülmener evangelische Pfarrer Gerd Oevermann in seiner diesjährigen Ansprache zum Abschluss der traditionellen Pestprozession am Ostermorgen (9. April) den jüdischen Religionsphilosophen Schalom Ben-Chorin (1913-1999): „Wer Frieden sucht, wird den andern suchen, wird Zuhören lernen, wird das Vergeben üben, wird das Verdammen aufgeben, wird vorgefasste Meinungen zurücklassen, wird das Wagnis eingehen, wird an die Änderung der Menschen glauben, wird Hoffnung wecken, wird dem andern entgegengehen, wird zu seiner Schuld stehen, wird geduldig dranbleiben, wird selber von Gottes Friede leben. – Suchen wir den Frieden!“ – Die Dülmener Pestprozession erinnert an das Jahr 1382, als die Pest große Teile der Dülmener Bevölkerung, darunter die gesamte Geistlichkeit, hinweggerafft hatte. Damals improvisierte der Bürgermeister einen Umgang durch Dülmen, bei dem er selbst ein Kreuz vorantrug, gefolgt von einigen Bürgern mit Schellen und Gesängen. Bis heute folgt das jeweilige Dülmener Stadtoberhaupt diesem überlieferten Brauch.
Ein Paket aus Berlin
Am Mittwoch der Karwoche erreichte ein handliches, aber relativ schweres Päckchen Dülmen, das vom Berliner Kunst- und Schmuckatelier „Aleksandra Koneva & Michael Friedrich-Friedländer“ auf den Weg gebracht worden war. Der Inhalt: ein überarbeiteter, also neuer Stolperstein für den jüdischen Viehhändler Isidor Davidson. Bereits 2007 waren der Familie Davidson, die 1937 Dülmen in die Niederladen verließ, insgesamt sechs Stolpersteine gewidmet worden, nämlich an der Lüdinghauser Straße 15, auf dem Bürgersteig. Jüngste Recherchen haben ergeben, dass Isidor Davidson, Jahrgang 1879, nicht während der deutschen Besatzung der Niederlande in ein Vernichtungslager im Osten deportiert wurde, sondern bereits Ende 1939 im niederländischen Zwolle durch einen Verkehrsunfall ums Leben kam. – Am 18. April wird der neue Stolperstein mit korrekter Inschrift um 12.00 Uhr in Gegenwart des Enkels Hans Davidson neu verlegt. Alle Interessierten sind herzlich willkommen. – Über einen Link kann man sich über die Herstellung von Stolpersteinen informieren: http://www.aleksandra-koneva.com/html_de/stolpersteine_de.html
„Ignoranz gegenüber jüdischer Identität“
Kritik an den Oberammergauer Passionsspielen: In seiner diesjährigen Gründonnerstagspredigt >>> hat sich Pfarrer Markus Trautmann kritisch mit der Abendmahlszene während der Passionsspiele 2022 in Oberammergau auseinandergesetzt. Gerade die sogenannten Einsetzungsworte Jesu („Dies ist mein Leib“, „dies ist mein Blut“) führten zu jener Deutung des Sterbens Jesu, wie dieser selbst sie im Bezug zum jüdischen Pascha-Fest und der Schlachtung des Pascha-Lammes zum Ausdruck bringen wollte, so Trautmann. Stattdessen seien diese Passagen in Oberammergau kurzerhand aus dem Text gestrichen worden. Allerdings habe „auch der völlig unsinnig auf dem Abendmahlstisch platzierte Siebenarmige Leuchter beim Oberammergauer Spektakel“ nicht darüber hinweggetäuscht, „dass hier das Herzstück der ganzen Passion, ja der ganzen Menschwerdung Jesu ignoriert und verleugnet wurde“, meinte Trautmann. Denn das Selbstverständnis Jesu als das endgültige Pascha-Lamm sei nur im Kontext der jüdischen Erinnerung an die Befreiung des Volkes aus der Knechtschaft Ägyptens nachzuvollziehen. „Dagegen leisten sich die Oberammergauer Passionsspiele, die nicht müde werden die Nähe zum Judentum zu behaupten, eine beispiellose Arroganz und Ignoranz gegenüber der jüdischen Identität und der zutiefst persönlichen Selbstbestimmtheit des Juden Jesus.“
Fotos: Abendmahlszene auf dem Tabernakel in der Kirche Heilig Kreuz; Abendmahlszene in dem Kirchenfenster der Kirche St. Agatha
Fest der ungesäuerten Brote
Christen und Juden feiern in diesen Tagen ihre höchsten Feste. Das jüdische Pessah-Fest geht vom 5. bis 13. April, beginnend mit dem Sederabend am Mittwoch. Für die Christen ist es die Heilige Woche von Palmsonntag, 2. April, bis Ostern, 9. April.
So erinnern wir besonders daran, dass knapp vier Jahrhunderte lang Christen und Juden in unserer Stadt das Fest der ungesäuerten Brote um den ersten Frühlings-Vollmond herum parallel feierten.
Es ist ein schönes Zeichen der Verbundenheit im Glauben, dass wir mit den uns bekannten Nachfahren der Dülmener Juden Grüße zum Oster- und Pessahfest ausgetauscht haben.